Péter Eötvös: Triangel
für Schlagzeug und Orchester (1993)
Maurice Ravel: La Valse
Poème chorégraphique pour Orchestre (1906–1920)
Luciano Berio: Sinfonia
für acht Singstimmen und Orchester (1968)
Neue Vocalsolisten
Isao Nakamura, Schlagzeug
Concerto Budapest
Leitung Péter Eötvös
Béla Bartók National Concert Hall
Luciano Berio über Sinfonia:
Der Titel Sinfonia ist hier im etymologischen Sinn des »Zusammenklingens«- von acht Stimmen und Instrumenten–zu verstehen. Obwohl die fünf Sätze äußerst verschiedenartige Ausdruckscharaktere aufweisen, sind sie aufs Ganze gesehen doch durch vergleichbare harmonische und artikulatorische Eigenschaften miteinander verbunden. Der Text des ersten Teils besteht aus einer Reihe kurzer Fragmente aus dem Buch Le cru et le cui von Claude Lévi-Strauss. Diese Fragmente sind den Abschnitten des Buches entnommen, in denen der französische Anthropologe die Struktur und die Symbolik brasilianischer Mythen über den Ursprung des Wassers analysiert.
Der zweite Teil ehrt das Andenken Martin Luther Kings. Die Vokalpartie beruht ausschließlich auf seinem Namen.
Der Text des dritten Teils enthält im wesentlichen Exzerpte aus The Unnamable von Samuel Beckett, denen sich Zug um Zug andere Elemente verschiedenartiger Herkunft zugesellen: Joyce, Sätze von Harvard-Studenten, Parolen, die Studenten im Mai 1968 während des Pariser Aufstands–dessen Zeuge ich war–an die Mauern der Sorbonne schrieben, auf Tonband aufgenommene Gespräche mit Freunden und mit meiner Familie, Solfège-Fetzen usw.
Im vierten Satz beruht die Vokalpartie auf einem kurzen Ausschnitt eines Textes, den ich bereits im ersten Satz verwendet habe.
Auch der Text des fünften Satzes ist im Wesentlichen vom ersten abgeleitet, diesmal allerdings unter Hinzufügung neuer Elemente aus Le cru et le cui. Hier werden Fragmente zweier Mythen übereinandergelagert. Sie zeigen Ähnlichkeit und Parallelität in ihrer Struktur, haben aber verschiedene Bedeutung. Der eine bezieht sich wiederum auf den Ursprung des Wassers, der andere auf den Ursprung der Musik. Diesen zweiten Text stellte mir Gérard Brunschwig liebenswürdigerweise zur Verfügung. Musikalisch »träumt« dieser fünfte Satz von Elementen der vorhergegangenen Sätze und »analysiert« sie–es handelt sich fast um eine »Traumdeutung«. Bestimmte Elemente treten nur einmal auf, bei anderen wiederholt sich ihre Erscheinung in gleichbleibender Weise, wieder andere sind unterschiedlichen Transformationsformen und Transformations-Geschwindigkeiten unterworfen. Zum Beispiel enthält dieser fünfte Satz den ganzen zweiten Satz in völlig unveränderter Gestalt.
Die Behandlung der Vokalpartien in den Sätzen I, II, IV und V ist sich jeweils darin ähnlich, dass der Text als solcher nicht unmittelbar erfasst werden kann. Die Worte und ihre Phoneme werden einer musikalischen Analyse unterworfen, die einen wesentlichen Bestandteil der Gesamtstruktur aus dem Zusammenwirken von Stimmen und Instrumenten bildet. Der wechselnde Grad an Textverständlichkeit ist Teil der musikalischen Struktur, und deshalb werden die von mir verwendeten Worte und Sätze nicht im Konzertprogramm abgedruckt. Die Erfahrung des »Nicht vollständig Hörbaren« soll als wesentlich für das Werk selbst betrachtet werden.
Ich glaube, dass der dritte Satz einen ausführlicheren Kommentar verlangt als die übrigen Sätze, denn er ist–um eine Klischeewendung zu gebrauchen–die vielleicht »experimentellste« Musik, die ich je geschrieben habe. Der Satz stellt eine Huldigung an Gustav Mahler dar, dessen Werk das Gewicht der ganzen Musikgeschichte in sich zu tragen scheint; auch ist er eine Huldigung an Leonard Bernstein für seine unvergessliche Interpretation der »Auferstehungs-Sinfonie« in der New Yorker Konzertsaison 1967.
Das Ergebnis wird zu einer Art »Voyage à Cythère« an Bord des dritten Satzes aus Mahlers Zweiten Sinfonie. Ich habe den Mahlerschen Satz wie ein Gefäß behandelt, in dessen Wänden eine große Zahl »musikalischer Mythen« und Anspielungen entwickelt, in gegenseitige Beziehung gesetzt und transformiert wird: von Bach, Schönberg, Debussy, Ravel, Richard Strauss, Berlioz, Brahms, Berg, Hindemith, Beethoven und Strawinsky bis zu Boulez, Pousseur, Globokar, Stockhausen, mir selbst und anderen.
Es lag weder in meiner Absicht, Mahler zu zerstören–er ist unzerstörbar–noch einen privaten Komplex gegenüber der nachromantischen Musik abzureagieren–ich habe keinen–noch eine weit gesponnene musikalische Anekdote zu erzählen–wie das junge Pianisten gerne tun. Zitate und Anspielungen wurden eher wegen ihres potentiellen als wegen ihres realen Bezugs zu Mahler ausgewählt.
Die Gegenüberstellung und Verschmelzung kontrastierender Elemente gehört tatsächlich zum Entscheidendsten in diesem Satz der Sinfonia, der sich–wenn man so will–auch als Dokumentation über »vorgefundenes Material« ansehen lässt. Als struktureller Bezugspunkt bedeutet Mahler für die musikalische Gesamtheit dieses Satzes das gleiche wie Beckett für den Text. Man könnte das Verhältnis zwischen den Worten und der Musik als eine Art Interpretation–nochmals: Traumdeutung–jenes gefühlsstromartigen Dahinfließens charakterisieren, welches das unmittelbarste Ausdrucksmerkmal in Mahlers Satz darstellt. Wenn ich beschreiben sollte, auf welche Weise das Scherzo von Mahler in meiner Sinfonia gegenwärtig ist, so käme mir spontan das Bild eines Flusses in den Sinn, der eine beständig wechselnde Landschaft durchläuft, manchmal in ein unterirdisches Bett versinkt und an einem ganz anderen Ort wieder ans Tageslicht dringt, bisweilen in seinem Lauf klar vor uns liegt, mitunter vollkommen verschwindet, gegenwärtig ist als völlig überschaubare Form oder auch als schmales Rinnsal, das sich in der vielfältigen Umgebung musikalischer Erscheinungen verliert.
Übersetzung aus dem Italienischen: Josef Häusler
https://www.mupa.hu/en/program/classical-music-opera-theatre/eotvos-80