Universität für Musik und Darstellende Kunst
Wien
Lecture-Konzert
Dániel Péter Biró: Asher Hotseti Etkhem
für fünf Stimmen und Elektronik (2022)
Neue Vocalsolisten
In den letzten zwanzig Jahren hat Dániel Péter Biró sich in seiner kompositorischen Arbeit mit Problemen des historischen Hörens und Verstehens befasst. Auf diese Weise wird der Akt des Komponierens für ihn zu einer Art klangvoller Archäologie; eine Entdeckung der Komplexität des Klangs als instabiles, facettenreiches Objekt der Kultur, eine Enthüllung von Schichten der Geschichte und Bedeutung. Gleichzeitig bedeutet Komponieren für ihn die Schaffung neuer Kontexte für Klang. Innerhalb dieses Widerspruchs–das Verständnis und die Bewahrung dessen, was kulturell und historisch weit entfernt ist und seine gleichzeitige moderne Transformation–entstand das Stück »Asher Hotseti Etkhem« (Der aus dem Land führte) basierend auf Texten von Baruch Spinoza (1632–1677) und jüdischen und christlichen Gesängen aus Portugal, Beirut und Montréal. Diese Komposition strebt wie andere seiner Werke ein Verständnis der Geschichte innerhalb des musikalischen Materials an und ermöglicht dem Klang, seine klangliche und formale Existenz zu überschreiten–mehr als nur ein historisches Objekt zu werden, das für den individuellen Ausdruck neu artikuliert wird.
In seinem philosophischen Traktat »Ethik« versuchte Baruch Spinoza eine neue Art von Theologie zu präsentieren, eine, die unabhängig von der organisierten Religion, wie der seiner eigenen portugiesisch-jüdischen Gemeinde in Amsterdam, war. Die musikalischen Materialien der Komposition, die einen Text von Spinoza vertonen, stammen aus liturgischen Quellen, die sich auf Spinozas Philosophie und seinen Hintergrund beziehen, so dass ein Kontrast zwischen den Welten der sehr rationalen philosophischen Ideen Spinozas und einer Melodie aus dem 15. Jahrhundert aus Portugal aus der Zeit der Vertreibung der Juden entsteht. Die Melodie aus der Maghen-Abraham-Synagoge in Montréal basiert auf der aus der inzwischen verlassenen Maghen-Abraham-Synagoge in Beirut und diese wiederum stammt aus der Zeit der portugiesischen Vertreibung. Die Komposition entstand während der aktuellen Pandemie, in der sowohl spirituelle als auch säkulare Rahmenbedingungen an ihre Grenzen stoßen. Sie erforscht historisch Möglichkeiten innerhalb dieser Fragmentierung für ein größeres Gefühl der menschlichen Verbindung zur Natur und zum Göttlichen, im Hinblick auf die Bewegungen des Geistes über Territorien, Kulturen und Traditionen hinweg.
Ich bin Benjamin Hadid und Esther Kontarsky sehr dankbar für ihre Hilfe bei meiner Untersuchung libanesischer Tora–Rezitations–Traditionen. Asher Hotseti Etkhem (Wer Euch aus dem Land gebracht hat) ist der Erinnerung an Hans Zender (1936–2019) gewidmet.
(Dániel Péter Biró)